Dornröschen als Parabel für eine schlechte Form der Erziehung

Schlafendes Dornröschen kurz bevor der Prinz sie küsst
Schlafendes Dornröschen kurz bevor der Prinz sie küsst, Henry Meynell Rheam, 1899
©Public Domain | Originalbild auf Wikimedia Commons

Schöne Prinzessin in Nöten, Prinz eilt zur Rettung… und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende. Auch das alte grimmsche Märchen Dornröschen folgt diesem bekannten und aus feministischer Perspektive ärgerlichen Plot. Aber was, wenn die Erzählung eine kritische Analyse der bestehenden Verhältnisse ist? Eine Analyse, die nicht offen artikuliert wird sondern in den enthaltenen Bildern kodiert ist? Dann lässt sich Dornröschen lesen als Parabel dafür, wie wir Mädchen nicht erziehen sollten und als Warnung vor den Folgen dieser schlechten Form der Erziehung.

Die Wundergaben der elf weisen Frauen

Einen ersten Hinweis liefert das Fest zu Dornröschens Geburt. An dessen Ende beschenken elf weise Frauen Dornröschen mit ihren Wundergaben. Es werden zunächst drei genannt.

Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist.

Die Beschreibung Dornröschens im weiteren Verlauf des Märchens nennt weitere Gaben, mit denen das Kind beschenkt wird.

An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, der es ansah, lieb haben musste.

Die Wundergaben der elf weisen Frauen verkörpern hier die von Dornröschens Eltern und der Gesellschaft auf sie projizierten Erwartungen. Dornröschen soll “tugendhaft, schön, sittsam, freundlich und verständig” sein. Als Mädchen und als junge Frau soll sie einem patriarchalen Idealbild entsprechen. Dann und nur dann “hat jedermann sie lieb”.

Die Rache der dreizehnten weisen Frau

Die ersten elf weisen Frauen –also Eltern und Gesellschaft– hätten Dornröschen alternativ Gaben wie Mut, Selbstvertrauen oder innere Stärke schenken können. Sie taten es aber ganz offensichtlich nicht. Die dreizehnte weise Frau drängt sich ins Geschehen.

Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: “Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.”

Die dreizehnte wurde explizit nicht eingeladen. Sie steht damit für die Anteile, die sich in Dornröschens Persönlichkeit nicht entfalten durften. Sie durften es deshalb nicht, weil Dornröschen dann nicht mehr dem erwünschten Idealbild entsprochen hätte. Tragischerweise sind dies aber genau die Anteile, die Dornröschen als Person hätten stärken und das drohende Unheil hätten verhindern können. Es wird hier offensichtlich, wie schädlich der Zwang in das patriarchale Idealbild für die junge Frau sein wird.

Die Hilfe der zwölften weisen Frau

Die Rache der dreizehnten weisen Frau –also der nicht entfalteten Persönlichkeitsanteile– soll Dornröschens Tod sein. Dieses Schicksal wird ihr aber erspart. Die zwölfte weise Frau tritt hervor.

Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: “Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.”

Die zwölfte weise Frau verkörpert Dornröschens Überlebenswillen. Sie will nicht sterben. Aufgrund des Zwangs in das patriarchale Idealbild und der nicht entfalteten stärkenden Persönlickeitsanteile, lässt sich der “böse Spruch nicht aufheben, sondern nur […] mildern”. Die Folgen sind für Dornröschen dennoch gravierend (“ein hundertjähriger tiefer Schlaf”).

Das Versagen des Königs

Dornröschens Vater der König reagiert drastisch auf das drohende Unheil für seine Tochter.

Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche verbrannt werden.

Die Spindeln stehen symbolhaft für die potenziellen Gefahren, denen Dornröschen ausgesetzt sein könnte. Der König versucht, indem er alle Spindeln verbrennen lässt, Dornröschen davor abzuschirmen. Er nimmt ihr damit die Möglichkeit, den Umgang mit Gefahren zu erlernen, sie also zunächst als solche zu erkennen und dann ggf. adäquat zu reagieren. Der König versagt als Vater im doppelten Sinne. Er versagt im engeren Sinne, weil es schlicht nicht möglich ist, die Tocher vor allen Gefahren abzuschirmen. Das Unglück geschieht schließlich. Und er versagt im eigentlichen Sinne, weil er weiterhin Dornröschens Persönlichkeitsentwicklung hemmt.

Der fünfzehnte Geburtstag

Ausgerechnet am Beginn des Jahres, für das das Unglück angekündigt war, lassen die Eltern ihre Tochter alleine. Sie scheinen sich also sicher, dass für Dornröschen im Schloss keine Gefahr droht. Dornröschen ist arglos und streift neugierig umher.

Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloss zurückblieb. Da ging es allerorten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Türe. In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es ihn umdrehte, sprang die Türe auf, und da saß in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs.

Das Märchen strebt hier seinem dramatischen Höhepunkt entgegen. Dornröschens Aufstieg die Wendeltreppe hinauf steht buchstäblich dafür. Der alte Turm, die enge Wendeltreppe, die kleine Tür, das kleine Stübchen und nicht zuletzt der verrostete Schlüssel: Alles deutet auf etwas Verbotenes und Verdrängtes hin.

“Guten Tag, du altes Mütterchen,” sprach die Königstochter, “was machst du da?” - “Ich spinne,” sagte die Alte und nickte mit dem Kopf .“Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?” sprach das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger. In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf.

Die phallische Qualität der Spindel, das Motiv des Stichs und das Vorhandensein eines Bettes lassen darauf schließen, dass Dornröschen hier ihre erste sexuelle Erfahrung macht. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um die Erfahrung sexuellen Missbrauchs im häuschlichen Umfeld handelt. Dornröschen ist mangels emotionaler Stärke und aufgrund ihrer Arglosigkeit ein leichtes Opfer. Ihre Eltern sind nicht zugegen, die Gelegenheit für den Täter ist somit günstig. Das kleine, abgelegene und vermutlich nicht benutzte (verrosteter Schlüssel) Stübchen hoch oben im alten Turm ist der perfekte Tatort.

Der hundertjährige Schlaf

Die beschriebene Deutung ist nicht zwingend. Die Andeutungen im Märchen sind vage. Allerdings sind die Folgen des Ereignisses so gravierend, dass die Annahme eines traumatisierenden Erlebnisses in dem kleinen Stübchen gerechtfertigt ist. Deren Beschreibung nimmt im Märchen den größten Raum ein und ist sehr bildhaft.

Und dieser Schlaf verbreite sich über das ganze Schloss: der König und die Königin, die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.

Das Motiv des Schlafes verkörpert hier eine tiefgreifende Lähmung. Diese erfasst nicht nur Dornröschen, sondern ihr gesamtes Umfeld. Auch ihre Eltern und alle anderen Angehörigen fallen in tiefen Schlaf. Sogar das Feuer flackert nicht mehr und der Wind verstummt. Es scheint, als wäre jegliche Lebensenergie versiegt und sogar die Zeit stünde still.

Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinauswuchs, dass gar nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach. Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so ward die Königstochter genannt, also dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloss dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.

Die Dornenhecke steht für den Schutzpanzer, den Dornröschen sich zulegt. Sie macht sich vor der Welt unsichtbar und negiert damit das Geschehene ("[…] dass gar nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach."). Darüber hinaus ist sie unfähig zu liebevollen Beziehungen und wehrt alle Versuche brüsk ab ("[…] denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.").

Dornröschens hundertjähriger Schlaf verkörpert ihre posttraumatische Belastungsstörung, unter der sie eine sehr lange Zeit leidet.

Der Königssohn

Im echten Leben ist Heilung bedauerlicherweise oft unerreichbar. Im Märchen geht es für Dornröschen hingegen gut aus. So kann ihr hundertjähriger Schlaf auch als heilsamer Schlaf gelesen werden. Er steht damit auch für den langwirigen Heilungsprozess, den Dornröschen durchläuft. Ihre endgültige Heilung erreicht sie in Gestalt eines furchtlosen Jünglings. In der Vorstellung der Erzähler:innen der damaligen Zeit konnte es wohl nur ein Königssohn sein.

Da sprach der Jüngling: “Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen.” Der gute Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte. Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter grosse schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und liessen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm taten sie sich wieder als Hecke zusammen.

Der Jüngling steht für einen liebenden Menschen, der Dornröschen wider alle Ratschläge zur Seite stehen will. Er ist der richtige Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort und nur unter diesen Voraussetzungen ist Dornröschen willens und in der Lage, Vertrauen zu fassen und ihn zu sich durch zu lassen. Die schönen Blumen, in die sich die Dornenhecke für den Königssohn verwandelt, sind eine gelungene Metapher dafür, dass auch die größten Probleme für die_den, die_der sie löst, ganz leicht sogar fast wie ein Vergnügen wirken. Für alle anderen hingegen erscheinen sie weiterhin unüberwindbar.

und er bückte sich und gab ihm einen Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und blickte ihn ganz freundlich an.

Im Märchen kulminiert Dornröschens Heilungsprozess im Kuss des Königssohns, der alles ungeschehen macht.

Fazit

Das patriarchale Idealbild, in das Dornröschen gezwungen wird, gibt es immer noch. Wenngleich der Zwang heutzutage vielleicht kleiner ist als zur Zeit des Märchens und die Folgen nicht immer so drastisch. Das Bild entfaltet immernoch seine Wirkung. Wir sollten uns das bewusst machen.

Wenn wir es Ernst nehmen, dass Gott alle Menschen mit freiem Willen ausgestattet hat, müssen wir den Rahmen schaffen, indem jede:r in der Lage ist diesen Willen auszuüben. Für die Erziehung von Mädchen und jungen Frauen (eigentlich aller Kinder und Heranwachsender) bedeutet das, sie in ihrer freien Persönlichkeitsentwicklung zu bestärken. Sie darin zu bestärken, selbst zu entscheiden, wer oder was sie sein möchten.

Es ist unsere Verantwortung, nach bestem Können einen sicheren Raum für ihre Entwicklung zu schaffen. Dennoch müssen wir akzeptieren, dass wir sie nicht vor allen Gefahren beschützen können und das auch nicht sollten. Denn übertriebener Schutz schränkt ihre Freiheit zu sehr ein. Er beraubt sie auch der Möglichkeit, an eigenen Erfahrungen zu wachsen, positiven wie negativen.

Wenn wir es richtig anstellen, werden aus kleinen Mädchen starke, unabhängige Frauen. Ob sie sich entscheiden, tugendhaft zu sein oder nicht, spielt keine Rolle. Schön sind sie in jedem Fall und waren es schon immer.

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